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17.02.2010 von AliceWonderland

"In England haben wir keine anderen Vergnügen außer dem Laster und der Religion."
(Sidney Smith, 1771 - 1845)

"Sehen Sie, Mortimer, mein Bester, für einen Briten gibt es wirklich keinen einzigen denkbaren oder triftigen Grund, auf seinen Fünfuhrtee zu verzichten. Der Weltuntergang hat solange zu warten".
(Sir Percival Allan Willbur of Glenbeigh, 8. Earl of Glenbeigh, 1887)



Kaum jemand würde widersprechen wenn ich sage: Großbritannien, das ist unsere Königin Viktoria. Noch nie war die „Mutter der Nation“ so populär wie heute.

Sicherlich sind einige ihrer Ansichten etwas konservativ. Dass sie die Frau am Herd sieht und den Mann alleine im Krieg, in der Werkstatt, in der Machtposition, schieben viele mit einem nachsichtigen Lächeln auf ihr Alter. Emanzipation war schließlich weder modern noch notwendig, als sie aufwuchs.

Und wenn wir ehrlich sind – die Missbilligung unserer Königin hindert die jungen Ingenieurinnen, die Studentinnen, Forscherinnen und Journalistinnen nicht daran, ihren neuen Idealen nachzueifern. Wenn auch sicherlich nicht so überschwänglich wie auf dem Kontinent. Etwas mehr Anstand und Etikette haben wir uns dann doch bewahrt; und warum sollten wir nicht stolz darauf sein, dass wir zumindest die Eleganz unserer wohlgeborenen Damen nicht dem ölverschmierten Fortschritt opfern?

Sicherlich tendiert die Königin auch politisch zum Altbewährten. Der Tod Ihres konservativen Premiers Benjamin Disraeli vor acht Jahren war ein schwerer Schlag, und mit dem liberalen Gladstone möchte sie sich bis heute nicht so recht anfreunden.

Verständlich, sagen die bezauberten Bürger. War es nicht Disreali, der Ihrer Majestät den Titel der indischen Kaiserin verschaffte? Und war es nicht konservative Außenpolitik, die Großbritannien in die Machtposition von heute gebracht hat? Imperiales Selbstbewusstsein ist jedenfalls ihr Ergebnis. So viel Selbstbewusstsein, dass unsere Königin ein zivilisatorisches Sendungsbewusstsein als Rechtfertigung für die Kriege in den Kolonien anführt. Das kann selbst Gladstone nicht verhindern.

Hier steht die Nation allerdings in einem Dilemma. Auf der einen Seite hört man die Stimmen der Imperialisten, die die Größe Englands befördert sehen wollen. Sie sprechen von kultureller Verantwortung. Auf der anderen Seite haben die letzten Jahre eine zunehmend stärkere humanitäre Bewegung hervorgebracht, die uns das Recht der Eroberung und der Regierung fremder Landstriche absprechen will.

Sicherlich ist die Königin ehrfurchtgebietend eher denn volksnah, majestätisch eher denn politisch gewandt. Seit dem Tod ihres Gatten vor so vielen Jahren ist ihre Popularität zwar in die Höhe geschossen, ihr Einfluss auf die Politik aber weiterhin nicht überwältigend.
Umso besser, das ist schließlich der Sinn einer konstitutionellen Monarchie, so die Anhänger des Königshauses. Denn Repräsentieren – ja darin liegt ihre Stärke. Vor zwei Jahren feierte sie ihr goldenes Thronjubiläum und alle in- wie ausländischen Gäste waren sich einig: Diese Königin steht für das Empire.

Das geht so weit, dass selbst ihre persönlichen Beziehungen politisch wirken: Wilhelm II, Deutscher Kaiser und König von Preußen, ist ihr ebenso unsympathisch wie sein Kanzler Bismarck – und das, obwohl er doch ihr Enkel ist. Darin spiegelt sich, so meine ich, das schwierige Verhältnis zwischen England und Deutschland aufs Trefflichste:
England hat die größeren Kolonien, die größere Flotte, die größere Kriegsmacht – doch Deutschland hat die innovativeren Geister, die rationaleren Denker. Und vielleicht schon bald die besseren Luftschiffe.

Ein Grund dafür ist, dass die Zeiten der Revolutionen recht gnädig mit unserem Inselreich umgegangen sind. Die konstitutionelle Monarchie heizt nicht den gleichen Hass an, der zu den unglücklichen Ereignissen in Frankreich geführt hat. Unser Adel hat schon vor Jahrhunderten den Wert der Maschinisierung und eines starken Bürgertums erkannt – vor allen anderen Nationen. Unser nationaler Gedanke fokussiert sich in einer Krone, die uns nicht faktisch regiert, aber uns Tradition und Halt gibt in Zeiten des Chaos.

Wahlrechtsreformen und Pressefreiheit taten ihr übriges, um die Folgen der sozialen Umwälzungen dieses Jahrhunderts zu mildern. Heute sind es die Dampfbarone des Unterhauses, die die Politik bestimmen, und der kleine Mann fühlt sich eingebunden. Der Engländer an sich, so könnte man gar sagen, ist hochpolitisch. Der Gemischtwarenhändler liest die Zeitungen, die über Ober- und Unterhaus berichten, ebenso gründlich wie der Lord, der sich seinen Herrn nennt. Man ist interessiert und involviert.

Meine Frage lautet: Lähmt uns dieser Mangel an radikalen Veränderungen? Ist unsere wohlwollende Königin das Symbol einer Zeit, die fast unbemerkt an uns vorübergezogen ist? Während die Welt immer rasanter in Eisen und Dampf versinkt, ist London noch immer eine Stadt der Geheimnisse: Nebelverhangene Gassen, exklusive Clubs, Gesellschaften für Privilegierte. Und daneben die Opiumhöhlen und Verbrecherkartelle, die Zelte der Wahrsagerinnen und die Séancen hinter verschlossenen Türen. Unsere Königin ist nicht der einzige Mythos, den wir uns bewahren.

Kein anderes europäisches Land ist so „viktorianisch“, wie man auf dem Kontinent sagt. Nirgendwo sonst ist man so aufgeschlossen gegenüber dem Ungewöhnlichen, möchte ich entgegnen. Welche andere Universität als die in London könnte sich denn zum Beispiel rühmen, eine Fakultät des Paranormalen zu besitzen? Hier gehen Wissenschaft und Intuition noch die gleichen Pfade, ganz ungleich dem eisenkalten Deutschland oder dem verweichlichten Paris.

Die Antwort auf meine Frage ist daher eine einfache: Nein, wir brauchen keine Revolution. Lasst die Königin den Massen zuwinken, lasst die Geisterschlösser stehen, lasst uns unsere Träume. Schließlich waren es diese Dinge – die geheimen Bünde fähiger Geister, der Stolz auf unsere Regentin, die Bereitschaft, an Größeres zu glauben als die Zahlen auf dem Papier – die unser Empire zu seinem heutigen Einfluss und ungebrochenem Aufschwung geführt haben.

Und wenn der Preis dafür ein wenig zu konservative Kleidung, ein paar seltsame Fakultäten an den Universitäten und ein wenig Unvernunft zugunsten der Vision ist – so sei es.

(Julia Terrence, Journalistin, in einem Artikel für den „Mirror“)


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