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Gesellschaft   Kleidung und Mode
24.01.2010 von AliceWonderland

Liebe Mama,

ich kann Dir gar nicht sagen, wie viel ich von Meister Grabowitz lerne. Hier in der großen Stadt hat eine Schneiderin so viel mehr zu tun, und so viele Möglichkeiten mehr, als bei Dir auf dem Land! Man muss schon sagen, wie oft die Rede unter den Herren auch ist, dass wir England im Luftrüstungskampf übertreffen werden, die Mode hier diktiert doch die Königin Victoria.

„Machen Sie es viktorianisch“, heißt es bei unseren Kunden immer.

Die Damen tragen Tournüren, winzige Hüte und Federn im Haar, und bestimmt wird es Dich freuen zu hören, dass auch hier nur die „leichten Mädchen“ und die Frauen der Barbaren und Zigeuner ihre Brüste oder Knöchel zeigen. Die modebewussten Herren tragen jederzeit Westen, seidene Halstücher und Gehröcke. Aber hier Mama, hört schon auf, was Du über die Schneiderei am Vorabend des großen neuen Jahrhunderts weißt!

Meister Grabowitz sagt, es liegt an den ganzen Professoren und Ingenieuren, und daran, dass die Æthernautik und die Naturwissenschaften den Lauf der Gesellschaft bestimmen. Jedenfalls ist es der neuste Chic, überall Uhrwerk und Zahnräder zu tragen!

Die Herren haben Manschettenknöpfe aus ratternder Maschinerie, und tragen ihre Æther-Schutzbrillen bis in die Salons. Nicht mehr nur Samt und Seide und die steifen Stoffe der Militäruniformen! Leder und Messing und diese neuen Reißverschlüsse sind die Materialien der Zukunft, sagt Meister Grabowitz. Denn jeder fesche Herr möchte sich so einen Anschein von Abenteuerlust verleihen, als wäre er ein Æthernaut oder ein Ägyptenforscher. Ganz groß im Kommen sind auch Propeller- und Zeppelin-Drucke und Broschen mit Räderwerk.

Es mag damit angefangen haben, dass mit den genialen Erfindern auf einmal die arbeitende Bevölkerung, solange sie sauber genug war, Zutritt zu den Salons gefunden hat. Aber die Gesellschaft, sagt Meister Grabowitz, hat schnell aus der Peinlichkeit eine Tugend, also in diesem Fall eine Mode, gemacht. Und wer die kleinste funktionierende Taschenuhr hat, der genießt ein besonderes Ansehen und die Aufmerksamkeit aller Damen auf dem Ball.

Und diese Damen solltest du sehen! Sie tragen Räderwerk-Insekten auf dem Hut, Bienen oder Spinnen, die für die neue Betriebsamkeit der Nation stehen. Alle Röcke sollen weit sein, damit sie damit geschäftig gehen können anstatt zu trippeln; und einige Damen (das wird Dir jetzt nicht gefallen) tragen sogar Hosen! Nicht die feine Gesellschaft, natürlich, oder wenn nur auf einem Maskenball. Aber letzte Woche habe ich von einem Kunden von einer Ingenieurin gehört, die in Lederhosen zum Minister gegangen ist! Kannst Du Dir das vorstellen?

Auch arbeite ich gerade für eine Forscherin, die sich einer Expedition nach Peru anschließen will, an einer seidenen Weste mit unzähligen Taschen für ihre Lupen und Instrumente und Notizbücher. Peru! Klingt das nicht romantisch? Was leben wir in einer wunderbaren Zeit, Mutter, dass sogar eine kleine Schneiderin von fernen Orten und Abenteuern träumen kann.

Anbei sende ich dir ein paar der neusten Schnittmuster mit. Vielleicht kannst du ja die verknöcherten Weiber auf dem Dorf davon überzeugen, den Fortschritt der Nation am Leib zu tragen.

Deine Dich liebende Tochter,

Maria

(Private Korrespondenz von Maria Helmholtz, Berlin, 1889)


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