Deutsches Kaiserreich
07.02.2010 von AliceWonderland
"Bismarck zieht den König und das Volk wie Bauern auf einem Schachbrett herum. Er hat in aller Offenheit in geradezu flagranter Art und Weise gegen die anderen Nationen Europas konspiriert. Er spielt mit Frankreich und mit Österreich, die er dazu bringen will Seite an Seite mit ihm in die Schlacht zu ziehen. Er ist genauso vertraut im Umgang mit Druck wie mit der Intrige. Er fürchtet weder Gott noch Mensch und war mit seiner Politik bislang so erfolgreich, dass man ihn durchaus als den fähigsten Staatsmann Europas bezeichnen darf."
(Thomas Bowles, in Vanity Fair, Ausgabe Oktober 1888)
Das Herz der Nation, so hört man aus aller Munde, sei aus Eisen und Zahnrädern gemacht – eine Maschine, die uns präzise wie ein Uhrwerk dem Fortschritt entgegen trägt. Zu verdanken ist das nicht zuletzt unserem „eisernen“ Kanzler Bismarck, der an der Seite Kaiser Wilhelms II das Deutsche Kaiserreich zu Weltbedeutung führt.
Tatsächlich hat unsere Heimat in den letzten Jahren die rasanteste Entwicklung aller Industrienationen vorangetrieben. Die Bekenntnis zur Technik, die sich in immer effizienteren und gewaltigeren Dampfmaschine und Luftschiffen äußert, hat das Zahnrad zum Motor des Fortschrittes erhoben. Weite Teile unserer Gesellschaft sind in Euphorie über das technische Kopf-an-Kopf-Rennen gegen England, aus dem wir als Sieger hervorzugehen gedenken. Das geht so weit, dass die Zahnräder sich nicht mehr nur in den Köpfen der Menschen drehen, sondern sogar in die Mode und das Alltagsleben Einzug gehalten haben.
Dementsprechend prosperiert auch die Wirtschaft im Kaiserreich. Englands Fortschritt schmilzt, und auf dem Weltmarkt kauft man deutsche Maschinen, als gäbe es kein Morgen. In einem solchen Aufbruchsklima fällt es leicht, sich dem allgemeinen Jubel anzuschließen: Das neu erblühte Nationalbewusstsein, an dem es uns so lange gefehlt hat, stützt sich auf Stolz angesichts des Erreichten und des noch zu Erreichenden. Wen mag es da wundern, wenn unsere Nachbarn zuweilen scheel auf unseren Anteil am Weltgeschehen oder unsere größere außenpolitische Geltung schauen?
Ich möchte an dieser Stelle nicht verneinen, dass die Geschwindigkeit der Entwicklung – wie bei jeder noch so gut geölten Maschine auch – zu der einen oder anderen Reibung geführt hat. Die traditionellen Kräfte im Land, der Adel und das Militär, haben an Einfluss verloren. Heute geben Industrielle und die genialen Erfinder des Landes Hand in Hand mit den Fürsten den politischen und wirtschaftlichen Ton an – auch wenn die Bühne der besseren Gesellschaft noch immer mehr oder minder sicher im Einflussbereich der Hochwohlgeborenen liegt. Wohin dieses Kräftemessen noch führen wird, kann allein die Zukunft zeigen.
Ein gutes Beispiel für den Umbruch, in dem wir uns befinden, sind die Damen unserer Gesellschaft. Das Kaiserreich braucht jeden Bürger, der die Sprache der Maschinen spricht, und kann in diesem Punkt auf das schwache Geschlecht keine Rücksicht nehmen. Das hat nur natürlicherweise dazu geführt, dass manche Frau sich gebärdet wie ein Mann. Auch wenn man in den Salons höchst selten eine Dame in Hosen sieht, die moderne Frau lässt sich nur mehr schwer aus den traditionellen Sphären des Mannes fernhalten. Allein was die Mode anbelangt, bleibt Frau eben Frau – und wie wir Männer uns an den englischen Maschinen messen, so gilt es den Damen, die viktorianische Mode zu überflügeln.
Alles in allem jedoch haben wir unseren Nachbarn einen gewissen Pragmatismus voraus. Wo Frankreich zur Gefühlsduselei neigt und England zum Spiritismus, da ist man hier pragmatisch. Preussische Werte, militärische Stärke, Zielorientiertheit und Fortschritt heißen unsere Tugenden. Nicht umsonst gelten die deutschen Mechaniker als die besten, wenn es um komplexe Uhrwerke geht. Dem Spirituellen dagegen stehen wir aus Tradition skeptisch gegenüber, und Wissenschaft zählt mehr als Visionen.
Und das, werte Studenten, sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben, wenn Sie diese Universität mit einem Diplom verlassen wollen, das Ihnen die Welt zu Füßen legt. Wie Bismarck so gerne sagt: „Das Deutsche Kaiserreich ist eine Nation auf dem Sprung.“ Achten Sie mir nur darauf, wohin Sie springen!
Das Deutsche Kaiserreich: Eine Rede des Dekans der Universität Berlin vor den Erstsemstern des Jahres 1888)
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