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Enzyklopädie   Die Sozialstruktur des Deutschen Kaiserreiches
12.01.2010 von AliceWonderland

Ein sozialer Schlüssel für den engagierten Bürger

(Flugblatt von August Bebel)

Am Vorabend des neuen Jahrhunderts ist die Vorstellung einer starren Gesellschaft überlebt. Soziale Mobilität mag sich zu großen Teilen innerhalb der einzelnen Klassen vollziehen, aber die massive Industrialisierung und der damit einhergehende Bedarf nach ständig neuen Fachkräften drängt unsere jungen Talente die soziale Leiter hinauf – ob ihre Väter nun Bauern, Schuhmacher oder Bäcker waren.

Am allgemeinen Chaos ändert das, natürlich, überhaupt nichts.

Von oben insistieren die ständischen Strukturen wie ein zum Leben erwachtes Fossil aus einer nur zum Schein überwundenen Vergangenheit. Zwei Prozent der Köpfe des Kaiserreichs besetzen drei Viertel der Machtpositionen im Militär und höchsten Beamtentum. Zwar drängen sich die Großgrundbesitzer ohne Titel, die berühmten Ärzte, die Professoren und Ingenieure an ihre Seite – doch mit dem gemeinen Mann haben sie nun einmal nicht sehr viel gemein.

In der Mitte drängt sich ein Mittelstand zusammen, der seinen Kinderschuhen kaum entwachsen ist, und wie betäubt in diese neue Welt starrt, die ihn hervorbrachte. Die marktbedingten Klassen ringen hier mit sich selbst, unsicher über ihren Stand. Ist geerbtes Geld nun besser als das selbst verdientes? Ja, sagt der Baron. Nein, sagt der Unternehmer. Ich will es herausfinden, sagt der Mechaniker. Tatsache ist, der Mittelstand mit seinen vielen sozialen Stufen – vom höheren Beamten bis zum Kleinhändler oder Werkmeister – ist bis auf sechs Millionen Haushalte angeschwollen. Und macht damit eine runde Hälfte der deutschen Reichsbevölkerung aus.

Von unten schauen die kleinen Leute hoffnungsvoll nach oben. Die Lohnarbeiter, Kleinbauern, niederen Postbeamte und armen Handwerker, die ihr Brot noch immer mit Holz statt Metall verdienen. Mehr als fünf Millionen Haushalte, die darauf hoffen, dass der nächste Junge einen Kopf für Mechanik hat, oder ein anderes Talent, das seine Familie eine weitere Stufe erklimmen lässt.
Und letztlich sind da noch die Trennlinien, die unsere Gesellschaft in der Vertikalen zu einem winzigen Schachbrettmuster zerschneiden: Stadt gegen Land, Christentum gegen Judentum, Glauben gegen Wissenschaft, altes Geld gegen neues Geld, Sauerstoff gegen Æther. Unsere Gesellschaft ist ein Gegeneinander, kein Miteinander, werte Leser, in dem jeder auf den Schultern seines Nächsten die Spitze zu erklimmen versucht.

Und warum? Schauen wir doch einmal genauer hin.

Der Adel thront noch immer an der Spitze, trotz Industrialisierung, trotz Urbanisierung, trotz unserer Herrschaft über die Lüfte selbst. Soziale Exklusivität und Prestige bewahren ihm starke Positionen in Militär, Staat und Verwaltung, obwohl sein Anteil am Bruttosozialprodukt – dem Herzschlag der Nation – immer weiter sinkt.

Das Bürgertum jedoch, das immer mehr die Rolle des Adels angenommen hat, ist zu different – und vielleicht zu indifferent – um die Zügel in die Hand zu nehmen. Das Großbürgertum aus Industriellen, Bankiers, Großkaufleuten und der "Crème de la Crème" unserer intellektuellen Elite mit einem praktischen Talent für Kriegsgerät, das sich in Geld verwandeln lässt auf der einen Seite, das Bildungsbürgertum mit seinen Architekten und Ingenieuren, verbunden durch verschlungene Worte und lateinische Fachsimpelei, auf der anderen Seite. Der neue Mittelstand aus Beamten und Angestellten, die ihre Nasen in den Wind des Wandels halten, auf der dritten Seite. Der alte Mittelstand mit seinen Handwerkern und Händlern, denen es auf einmal so eng in ihrer Klasse wird, auf der vierten Seite. Unser Mittelstand, meine Damen und Herren, ist ein Kompass der Uneinigkeit.

Bleiben die Arbeiter und Bauern. Noch nie hat es so viele Arbeiter gegeben – oder wagen wir zu sagen, bis in unsere Ära hat es nie wirklich Arbeiter gegeben? Fast neun Millionen Paar Hände, die sich in den Fabriken und Bergwerken abschinden, halten unsere Nation über Wasser. Das ist die unbequeme Wahrheit, werte Leser. Diese schlecht bezahlten, sechzig Stunden jede Woche schuftenden, Lungenkrankheiten ausbrütenden, schmutzigen und unzufriedenen Männer und Frauen heizen unsere Häuser, bauen unsere Kriegsmaschinen und setzen die Puppen zusammen, mit denen unsere Kinder spielen. Noch leben viele von ihnen in den Vorstädten, in vorgelagerten Dörfern und kleinen Siedlungen, und hegen ihre überalterte Moral wie ein sterbendes Pflänzchen. Doch diesem Pflänzchen fehlt das Licht, und wenn es stirbt, so wird vielleicht die Erkenntnis kommen, und mit der Erkenntnis Zorn. Die Arbeiter kommen in die Städte, und nach dem Konjunkturaufschwung schießen die Arbeiterorganisationen aus dem Boden wie die Pilze nach dem Regen. Schon spricht man von „Arbeiterkultur“, wo die Aufseher es nicht hören können. Ich nenne nur ein Wort, meine Damen und Herren, ein neues Wort, das uns allen Angst einjagt und den Kaiser selbst zum Zittern bringt: Streik.

Auch auf dem Land ist die Idylle nicht mehr, was sie einmal war. Unsere genialen Maschinen ersetzen den Menschen, unsere chemischen Experimente verdoppeln die Erträge der Felder – die dennoch immer weniger Mäuler stopfen können. Die arbeitslosen Bauern strömen in die Städte wie eine Rattenplage und verbreiten dort die Krankheit namens Unzufriedenheit.

Natürlich haben Sie mich längst durchschaut. Was ich in so vielen Worten sagen wollte ist schlicht: Wir bauen auf einem wackligen Fundament. Während wir nach außen drängen, Kolonien an uns reißen und neiderfüllt auf das Schärflein unseres Nachbarn schielen, wackelt unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten.

Nun zu meiner Frage: Was gedenken Sie dagegen zu tun?


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